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Verfassungsbeschwerde Off-Label-Therapie — Ablehnung der Kostenübernahme für mit Miglustat bei Tay-Sachs-Erkrankung

Bundesverfassungsgericht Urteil 1 BvR 1790/23

Zusammenfassung des Urteils:

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 25. September 2023 (Az. 1 BvR 1790/23) entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht verpflichtet ist, die Kosten für eine Off-Label-Therapie mit dem Medikament Miglustat zur Behandlung der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung zu übernehmen. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde abgewiesen, da die fachgerichtlichen Entscheidungen keine verfassungsrechtlichen Fehler aufwiesen und die Erfolgsaussichten der Therapie nicht ausreichend wissenschaftlich belegt waren.

Hintergrund des Falls:

Der Beschwerdeführer, ein 2020 geborenes Kind, leidet an der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung, einer seltenen und tödlichen Stoffwechselerkrankung. Im März 2022 wurde die Diagnose gestellt, und seitdem erhält der Beschwerdeführer eine Off-Label-Therapie mit dem Medikament Tanganil. Aufgrund der progressiven Natur der Krankheit und des Fehlens zugelassener kausaler Therapien beantragten die Eltern des Kindes im November 2022 die Kostenübernahme für die Behandlung mit Miglustat, einem Medikament, das nicht für diese spezielle Indikation zugelassen ist.

Entscheidung der Krankenkasse:

Die Krankenkasse lehnte den Antrag auf Kostenübernahme ab, da die wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit von Miglustat bei der Behandlung der Tay-Sachs-Erkrankung fehlten. Diese Entscheidung wurde nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes (MD) getroffen, der keine ausreichenden Hinweise auf einen positiven klinischen Effekt von Miglustat fand.

Einspruchsverfahren und gerichtliche Entscheidungen:

Im anschließenden Widerspruchsverfahren legten die Eltern des Kindes weitere Stellungnahmen vor, darunter die eines Experten für lysosomale Speicherkrankheiten, der auf tierexperimentelle Studien verwies, die eine Senkung der GM2-Akkumulation durch Miglustat zeigten. Dennoch hielt die Krankenkasse an ihrer Entscheidung fest, da keine klinischen Studien zur Wirksamkeit des Medikaments bei der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung vorlagen. Das Sozialgericht bestätigte die Entscheidung der Krankenkasse, und das Landessozialgericht wies auch den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab.

Verfassungsbeschwerde:

Mit der Verfassungsbeschwerde rügten die Eltern eine Verletzung der Grundrechte des Kindes, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit). Sie argumentierten, dass es unzumutbar sei, den Rechtsweg in der Hauptsache auszuschöpfen, da aufgrund der kurzen Lebenserwartung des Kindes ein wirksamer Rechtsschutz nicht erreichbar sei.

Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht:

Das BVerfG stellte fest, dass die Fachgerichte sorgfältig geprüft hatten, ob ernsthafte Hinweise auf eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder zumindest eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf vorlagen. Diese Prüfung ergab, dass die Aussicht auf eine solche Wirkung im Fall von Miglustat nicht gegeben sei. Das Gericht betonte, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn Fachgerichte ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage zur Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Therapie fordern.

Wissenschaftliche Evidenz und Rolle des behandelnden Arztes:

Die Einschätzung des behandelnden Arztes alleine reicht nicht aus, um die Erfolgsaussicht einer Therapie zu begründen. Fachgerichte müssen auch mögliche Risiken und gegen die Wirksamkeit sprechende Aspekte berücksichtigen und diese gegen die erhofften Nutzen abwägen. Im vorliegenden Fall wurde die positive Einschätzung des behandelnden Arztes durch den MD und weitere Gutachten in Frage gestellt, da keine überzeugenden wissenschaftlichen Beweise für die Wirksamkeit von Miglustat vorlagen.

Grundrechtsorientierte Auslegung und Leistungspflicht:

Das BVerfG wies darauf hin, dass in Fällen lebensbedrohlicher oder tödlicher Erkrankungen die Grundrechte die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten können. Dennoch muss die gewählte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bieten. Im vorliegenden Fall konnte diese Voraussetzung nicht erfüllt werden, da die wissenschaftlichen Belege fehlten.

Verfassungsrechtliche Kontrolle:

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich grundsätzlich auf die Überprüfung deutlicher Fehler in der Sachverhaltsfeststellung und Würdigung durch die Fachgerichte. Der Beschwerdeführer konnte jedoch keine solchen Fehler darlegen. Die fachgerichtlichen Entscheidungen, die die fehlende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung von Miglustat auf den Krankheitsverlauf feststellten, wurden als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft.

Ablehnung der Verfassungsbeschwerde:

Das BVerfG entschied, dass die Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung habe und nicht zur Durchsetzung der Grundrechte im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG erforderlich sei. Zudem sei die Beschwerde unzulässig, da sie nicht den Darlegungsanforderungen entspreche, die aus § 23 Abs. 1 Satz 2 und § 92 BVerfGG folgen. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde müsse eine zuverlässige Grundlage für die weitere Behandlung des Verfahrens bieten, was im vorliegenden Fall nicht gegeben sei.


Ein Fachbeitrag aus dem DIRO-Netzwerk

Beitrag veröffentlicht am
30. September 2024

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